Der Historiker und Aktivist Milo Probst plädiert in seinem neu erschienenen Buch „Für einen Umweltschutz der 99%“ nicht nur für intersektionale Klassenpolitik als Ausgangspunkt aktueller Umweltbewegungen. Er erinnert auch an den Reichtum historischer Erfahrungen und politischer Möglichkeiten, die außerhalb des Kanons linker Geschichtsschreibung zu finden sind. Erinnerungen die gerade heute dabei helfen können, Resignation und Fatalismus zu begegnen. Eine Buchbesprechung von Lukas Stolz.

Ob Autohersteller, Hedgefonds oder Markus Söder: Alle behaupten heute Grün zu sein. Spätestens seit dem medialen Erfolg von Fridays for Future der letzten Jahre ist das Thema Umwelt- und Klimaschutz nicht mehr aus den öffentlichen Debatten wegzudenken. Alles gut also? Eher nicht. Die Frage ist nur nicht mehr ob Umwelt- und Klimaschutz relevant sind, sondern welchen Umweltschutz wir eigentlich meinen. Um dem zunehmenden Greenwashing des Umweltschutzbegriffs etwas entgegenzusetzen, plädiert der Autor und Historiker Milo Probst in seiner im Oktober erschienenen Nautilus Flugschrift „Für einen Umweltschutz der 99%“. Um es gleich vorwegzunehmen: Das Buch ist kein Beitrag zu linken Strategiedebatten im engeren Sinne. Es finden sich weder Anleitungen zum Sprengen von Pipelines noch versteht sich das Buch als politische Betriebsanleitung für Umweltbewegungen.
Dem Autoren, der selbst in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv ist, geht es um etwas anderes: um das skizzieren „eines politischen Horizonts, den alle ansteuern sollten, denen nicht-ausbeuterische Beziehungen zu Mitmenschen und der Umwelt ein Anliegen sind“ (S. 13). Vielleicht ist es nur konsequent, dass in Zeiten, in denen die Zukunft zunehmend als Katastrophe erscheint, ausgerechnet eine „historische Spurensuche“, wie es im Untertitel des Buches heißt, dabei helfen soll, politische Visionen zu artikulieren. Schnell wird deutlich, worum es beim Umweltschutz, den Probst meint, geht – um Alles: „Nicht nur um den Schutz der Natur, sondern genauso um Fragen der menschlichen Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Die Umweltzerstörung kann nicht getrennt von den anderen sozialen Krisen der Gegenwart adressiert werden. Umweltschutz der 99% ist deshalb Herstellen von Beziehungen zwischen Menschen aus unterschiedlichen Orten und Zeiten, die gegen die Herabsetzung und Zurichtung des Lebens durch einen heteropatriarchalen, rassistischen und neokolonialen Kapitalismus kämpfen“ (S. 11).
Gegen grünen Kapitalismus und für intersektionale Klassenpolitik
Bevor uns Probst im Hauptteil des Buches auf eine Reise in Richtung einer „zukunftsträchtigen Vergangenheit“ mitnimmt, führt er im ersten und kürzeren Teil des Buches seinen Begriff des Umweltschutzes der 99% ein. Größter Gegner ist dabei der Umweltschutz der 1%, der momentan die öffentlichen Debatten um Nachhaltigkeit dominiert. Darunter lassen sich all die staatlichen und marktwirtschaftlichen Ansätze zusammenfassen, die im Namen einer abstrakten Menschheit gesellschaftliche Machtverhältnisse und völlig unterschiedliche Grade an Verantwortung und Betroffenheit verschleiern und damit von der einen entscheidenden Tatsache ablenken: Während die Reichen dieser Welt die ökologischen Krisen im Wesentlichen verursachen, sind die Ärmsten am stärksten von deren Folgen betroffen.
In Abgrenzung zu Spielarten eines solchen grünen Kapitalismus basiert der Umweltschutz der 99% auf drei Prämissen: In seiner Gegenwartsdiagnose geht er erstens von einer fundamentalen zivilisatorischen Krise aus, der nur mit einem Systemwandel begegnet werden kann, nicht mit kleinen Öko-Reformen oder einem Green New Deal. Zweitens fordert Probst eine Neudefinition des Subjekts dieser umfassenden ökologisch-sozialen Transformation, ein Subjekt das alle Verdammten dieser Erde miteinschließt. In anderen Worten: Intersektionale Klassenpolitik als Ausgangspunkt eines neuen ökologischen „Wir“, das im besten Fall die Interessen von indigenen Kleinbäuer*innen ebenso wie die von Gewerkschaftlern aus Industriestaaten integriert. Drittens diagnostiziert Probst ein doppeltes Scheitern: So befassten sich Umweltbewegungen der Vergangenheit einerseits zu wenig mit sozialen Fragen – und andererseits große Teile der Linken und Arbeiter*innenbewegung zu wenig mit ökologischen Fragen.

Transformation von den Bewegungen aus denken
Der Umweltschutz der 99% richtet sich also nicht nur gegen einen grünen Kapitalismus, sondern interveniert gleichzeitig in Umwelt- und Ökologiedebatten innerhalb der Linken, in der sich nicht selten ökologische und soziale Fragen miteinander verhaken und in der angesichts einer eskalierenden Krisendynamik zuletzt auch Rufe nach einem Öko-Leninismus laut wurden. Entgegen solchen Forderungen, die auf zentralisierte staatliche Lösungen setzen, plädiert Milo Probst dafür, die „sozialökologische Transformation von den Bewegungen und Kämpfen aus zu denken“ (S. 22). Das Hauptargument dabei lautet: Nur wenn wir den Zusammenhang zwischen der Umweltkrise und den anderen sozialen Krisen der Gegenwart verstehen, und Brücken zwischen der ökologischen Bewegung sowie antikapitalistischen, feministischen, antirassistischen und dekolonialen Kämpfen bauen, können wir das Problem an seiner Wurzel bekämpfen. Dass es mit einem Plädoyer für einen Dialog zwischen allen Menschen mit Unterdrückungserfahrung nicht getan ist, ist Probst bewusst: „Wo wird dieses Unrecht aktuell verübt, was ist das Leid, gegen das sich Menschen immer wieder auflehnen? Und gibt es zwischen unterschiedlichen Unterdrückungserfahrungen überhaupt noch etwas Gemeinsames und Verbindendes? In Bezug auf diese Fragen besteht aktuell wahrscheinlich die größte Orientierungslosigkeit.“ (S. 37).
Wie also versucht der Umweltschutz der 99% uns die dringend benötigte Orientierung zu geben? Indem er uns auf einen Umweg in die Vergangenheit einlädt. Während der Ausgangspunkt der Reise durchaus aktuelle Debatten mit ihren ungelösten Konflikten und Fragestellungen sind – nicht zuletzt der Interessengegensatz zwischen Lohnarbeitenden und Umweltschützenden – besteht die Strategie des Buches darin, oftmals eher unbekannten Protagonist*innen, die im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in anarchistischen und libertären Bewegungen auf beiden Seiten des Atlantiks aktiv waren, eine Bühne zu bieten. Damit soll gezeigt werden: Der Umweltschutz der 99% ist kein Luftschloss, sondern wurde zumindest in Fragmenten historisch bereits erprobt. „Es soll keine abgeschlossene und kohärente Theorie, kein fertiges Rezept und auch keine Blaupause für Kämpfe für heute und morgen liefern. Es soll vielmehr verschiedene Ansätze, Suchbewegungen und Träume miteinander verweben, damit die Konturen eines intersektionalen und klassenkämpferischen Umweltschutz der 99% sichtbar werden“ (S. 48).

Zukunftsträchtige Vergangenheiten
Die Reise in die Vergangenheit beginnt in Argentinien, zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Hotspot der internationalen anarchistischen Bewegung. Im ersten Kapitel „Solidarität mit der Natur. Oder: Weshalb Utopien wichtig sind“ treffen wir dort mit Pierre Quiroule den frühen Verfechter eines Solidaritätsbegriffs, der neben Menschen auch Tiere und die Natur miteinschließt. Bereits hier zeigt sich, dass vermeintlich neue Ideen wie die Kategorie des „More-than-human“– eine Innovation, die in aktuellen Ökologiedebatten eine Dezentrierung des klassischen Humanismus markiert – bereits in der Vergangenheit zu finden sind. Im zweiten Kapitel „Es noch einmal versuchen. Oder: Weshalb sich der Umweltschutz ‚industrialisieren‘ sollte“ verschlägt es uns nach Sheffield der 1890er Jahre, wo der britische Sozialist Edward Carpenter die Arbeiter*innenbewegung zum Kampf gegen Luftverschmutzung aufrief und damit beweist, dass Sozialismus und Umweltschutz schon recht früh zusammengedacht werden konnten. Nicht immer verlaufen die im Buch vorgestellten Kämpfe erfolgreich. Carpenter scheiterte letztlich an der Befürchtung seiner Genoss*innen, dass mehr Umweltschutz nur auf Kosten von Arbeitsplätzen zu haben sei – ein bekanntes Motiv heutiger Debatten. Die Schwierigkeiten, einen Umweltschutz der 99% tatsächlich umzusetzen, scheinen also immer wieder deutlich auf. Doch ist dieser Ansatz von Probst bewusst gewählt. Denn „die Verlierer*innen der Geschichte vor dem Vergessen zu retten, heißt auch, ihre Hoffnung weiterzutragen – es noch einmal zu versuchen“ (S. 71).
Neben solchen Beispielen gescheiterter Kämpfe gibt es aber durchaus auch atemberaubende Erfolgsgeschichten: Besonders eindrücklich ist die vom Sklaven Joseph Cinqué organisierte Flucht, von der wir im vierten Kapitel „Abolition ecology. Oder: Was Umweltschutz mit Antirassismus zu tun hat“ erfahren. Nachdem Cinqué aus Westafrika entführt und mit anderen Sklaven zur Arbeit auf kubanischen Zuckerplantagen verschifft werden sollte, organisierte er 1839 eine Meuterei, übernahm die Kontrolle des Schiffes und landete schließlich in den USA, wo nach einem Prozess das Oberste Gericht die Unrechtmäßigkeit der Versklavung feststellte. Dieser „Akt der Selbstbefreiung, der im gesamten atlantischen Raum Aufsehen erregte“ (S. 103) gilt als Meilenstein der Antisklaverei-Bewegung. Am Beispiel der Plantagenökonomie wird der Zusammenhang zwischen sozialen und ökologischen Fragen besonders deutlich, handelt es sich doch um das krasseste Beispiel eines extraktiven racial capitalism, der auf der kombinierten Ausbeutung von Mensch und Natur basiert.
Die brutalen Auswirkungen des Kolonialismus lernte auch die Protagonistin des fünften Kapitels „Ökologien der Sorge. Oder: Was Umweltschutz mit Feminismus zu tun hat“ kennen: Louise Michel wurde als Bestrafung für ihre Teilnahme an der Pariser Kommune zusammen mit anderen Kommunard*innen 1873 in die französische Strafkolonie Neukaledonien im südlichen Pazifik verschifft wurde. Dort trafen die besiegten französische Sozialist*innen auf die besiegten Aufständischen Algeriens und die indigene Bevölkerung, die unter der kolonialen Landnahme litten. Michel lernte dort „eine kosmopolitische Geschwisterlichkeit zwischen den Verbrannten, Verstoßenen, Vergessenen und Unterdrückten der Erde“ (S. 124) kennen. Wie sich herausstellen sollte eine durchaus brüchige Solidarität, so wurden zur Niederschlagung der Aufstände rebellischer Kanaken auch Pariser Kommunarden rekrutiert. Trotzdem eine Erfahrung, die Louise Michel später im Londoner Exil zu Gründung der anarchistischen und antiautoritären „Internationalist School“ bewegte. Es gehört zum besonderen Verdienst des Biches, solche Verbindungslinien und Verläufe zwischen historischen Ereignissen und Protagonist*innen an unterschiedlichen Orten immer wieder herauszuarbeiten und damit an den Reichtum historischer Erfahrungen und politischer Möglichkeiten zu erinnern, die außerhalb des einschlägigen Kanons linker Geschichtsschreibung zu finden sind. Zum Ende der Reise geht es wieder nach Südamerika, wo wir den mexikanischen Anarchisten Ricardo Flores Magòn kennenlernen: Als Sohn eines Zapatisten und gerüstet mit den Argumenten Kropotkins legte er dar, dass insbesondere indigene Gemeinschaften beste Voraussetzungen für eine kommunistische Organisierung der Gesellschaft bieten, womit er das eurozentristische, auf Industrialisierung setzende Revolutionsmodell des orthodoxen Marxismus in Frage stellte.
Wiederaneignung der politischen Vorstellungskraft
Nach diesem Streifzug zu unterschiedlichsten Schauplätzen, Kämpfen und Protagonist*innen der Vergangenheit wird die große Stärke des Buches deutlich: In einer Zeit, die immer mehr von Zukunftsängsten und nicht selten von Gefühlen politischer Verzweiflung geprägt ist, bewirkt die Vergegenwärtigung von vergangenen Kämpfen und „uneingelösten Versprechen auf eine andere Welt“ (S. 173) eine dringend benötigte Befreiung der politischen Vorstellungskraft, jenseits von Nostalgie oder eines flachen technologieverliebten Optimismus. Eine andere Welt ist möglich, weil es sie in Teilen bereits gegeben hat, weil es sie vielleicht sogar in Teilen immer noch gibt und weil es nie zu spät ist, neu anzufangen.
Mit seinem Buch knüpft der Historiker Probst an zwei Autor*innen an, welche die linken Debatten der jüngsten Zeit entscheidend prägten: Zum einen an das 2020 erschienene Buch „Revolution für das Leben“ der Philosophin Eva von Redecker, die eine Kritik des kapitalistischen Eigentumsbegriffs mit einer Übersicht gegenwärtiger politischer Kämpfe verbindet. Dabei nimmt uns von Redecker u.A. ebenfalls mit nach Argentinien, heute Schauplatz einer neuen feministischen Internationalen, und entwickelt aus dem Panorama verschiedener Kämpfe die Konturen eines Revolutionsbegriffes unter intersektionalen und ökofeministischen Vorzeichen. Zum anderen knüpft Probst nicht zuletzt mit der Titelwahl an den im letzten Jahr verstorbenen Anthropologen und Anarchisten David Graeber an, der zu Occupy Zeiten den Begriff der „99%“ mitprägte und dessen jüngst posthum erschienenes Buch „The Dawn of everything“ ebenfalls den Versuch unternimmt, eine andere Zukunft über den Umweg einer alternativen Geschichtsschreibung vorstellbar zu machen. Graeber erschüttert zusammen mit seinem Co-Autoren David Wengrow die liberale Fortschritts- und Triumphgeschichte, wie sie zuletzt vor allem Yuval Noah Harari und Steven Pinker stark machten, mit Verweis auf neue anthropologische Erkenntnisse zur Komplexität vormoderner Gesellschaften der letzten 30.000 Jahre die zeigen: Es könnte auch alles ganz anders sein. Als geschichtsphilosophischen Paten des Umweltschutzes der 99% müssen wir uns Walter Benjamin vorstellen, auf dessen Kritik der „vulgärmarxistischen Vorstellung von Arbeit, Natur und Fortschritt“ (S. 46) Probst im Anfangskapitel hinweist: Benjamin gehörte zu den ersten Denkern der kritischen Theorie, der in seinen geschichtsphilosophischen Thesen die uneingelösten Versprechen der Vergangenheit als Ressourcen für die Kämpfe der Gegenwart theoretisierte: Diese sollen sich, so Benjamin, „nicht am Ideal der befreiten Enkel“ orientieren, sondern vor allem das Bild der geknechteten Vorfahren nicht vergessen.
Hoffnung jenseits von Fortschritt
Macht es sich Probst mit seinem Umweltschutz der 99% zu einfach, wenn er immer wieder auf das fragmentarische und beispielhafte seines Ansatzes verweist oder wenn schwierige strategische Fragen an „theoretische und praktische Suchbewegungen“ (S. 47) von Aktivist*innen und Bewegungen delegiert werden? Anders gefragt: Fehlt dem Umweltschutz der 99% das Kleingedruckte, weil es einen Bogen um den Bereich der Umsetzung macht? Diese Fragen positiv zu beantworten, hieße einen Anspruch zu stellen, der sich auf den knapp 200 Seiten einer Flugschrift kaum erfüllen ließe. Eine volle Ausbuchstabierung der Widersprüche der Gegenwart würde zudem den zentralen Anspruch des Buches erschweren: neue politische Horizonte aufzuzeigen und den „Sinn für das Mögliche schärfen“ (S. 21). Probst setzt sich durchaus mit den Kleingedruckten auseinander: Nur sind es eben die Archive mit all ihren fast vergessenen Geschichten, die er für uns in die Gegenwart transportiert. Eine solche Wiederaneignung dissidenter Vergangenheiten, die sich von „den gut gepflasterten Wegen heroischer Arbeitskämpfe und siegreichen Theorien entfernt, um andere Pfade zu entdecken“ (S. 47) könnte dabei selbst in dem Maße als politische Praxis bezeichnet werden, wie sie in der Lage, ist eine zeitgemäße und geläuterte Form von Hoffnung zu produzieren. Eine Hoffnung, ohne die auch alle Auseinandersetzungen zum Verhältnis von ökologischer und sozialer Frage und alle aktuellen Strategie Debatten letztlich ins Leere laufen würden.
“Umweltschutz der 99%” ist im September bei Nautilus erschienen und kostet 16€.